Ein Scherbengericht in der Schule – „Der zerbrochne Krug“ an der RFS

Foto: Stefan Mesitschek

Foto: Stefan Mesitschek

„Ihr krugzertrümmerndes Gesindel, ihr! Ihr sollt mir büßen, ihr!“ – Wirklich wütend ist diese ältere Dame, die hier als Klägerin vor Gericht kommt und wüste Anschuldigungen ausstößt. Das schuldige – oder besser: vermeintlich schuldige – Gesindel hat sie gleich mitgebracht und macht nun lautstark ihrem Zorn Luft. Dumm nur, dass der Richter, den sie anruft, größtes Interesse daran hat, die Umstände der Krugzertrümmerung gerade nicht aufzuklären, sondern zu verschleiern, weil niemand anders als er selbst der Schuldige ist.

An der Robert-Franck-Schule wird Heinrich von Kleists Komödie „Der zerbrochne Krug“ gegeben. Achtzig Schülerinnen und Schüler der zwölften Klassen sitzen von zwei Seiten um die Bühne herum, die David Lison und Petra Ehrenberg vom THEATERmobileSPIELE in der Aula aufgeschlagen haben. Die Spielfläche wird von einer quadratischen Plane markiert, in deren Mitte ein weit aufgerissenes, bewimpertes Auge das absurde Geschehen unverwandt verfolgt. Hinten wächst als Bühnenabschluss eine rechtwinklige Wand aus Aktenordnern empor, vor denen sich der Dorfrichter Adam sein Podium bereitet. Schlecht geschlafen hat er, ist ungnädig und muss sich von seinem lispelnden Schreiber nun auch noch nach den frischen Wunden an Stirn und Hinterkopf fragen lassen. Adam lenkt ab, er ist der Platzhirsch hier. In schwarzer Amtstracht, auf Weinkisten und Aktendeckeln präsidierend, lässt er sich sein Frühstück schmecken und holt immer wieder beiläufig hinter diesem und jenem Ordner den Flachmann und die Korbweinflasche hervor. Selbst die Ankündigung eines Inspektionsbesuchs durch einen höheren Gerichtsrat stört seine Behaglichkeit nicht sofort. Solche Überprüfungen scheint er bislang immer irgendwie abgewettert zu haben. Als aber klar wird, dass der Kontrolleur praktisch vor der Tür steht, pflügt Adam schon deutlich unruhiger über die Bühne und bellt unwirsch Anweisungen für die Mägde ins Dosentelefon.

Für seine Spielpartnerin beginnt nun ein Reigen der Verwandlungen. War sie zuvor die Gerichtsschreiberin Licht, wird sie nun zur Gerichtsrätin Walter, die im tadellosen Businesskostüm in das häuslich-amtliche Durcheinander des bauernschlauen Richters Adam einfällt und darin recht bald eine Brutstätte dienstlichen Schlendrians zu wittern beginnt. Die Schreiberin hat sich unterdessen auf einen Fernsehbildschirm zurückgezogen, der erhöht aus der Aktenwand herausschaut. Auch von dorther schaltet sie säuerliche Kommentare ein, während Adam und Walter einander über dem starrenden Bühnenauge umschleichen.

Bislang war alles nur Vorspiel. Ein wahrer Anflug von Panik kommt erst über den Richter, als ihm aufgeht, welchem Verfahren er an diesem Tag ausgerechnet unter der strengen Amtsaufsicht der Walterin vorzusitzen hat: Frau Marthe Rull, die zornige alte Dame von eben, klagt Ruprecht Tümpel, ihren Schwiegersohn in spe der nächtlichen Krugzerstörung während eines unerlaubten Stelldicheins mit ihrer Tochter Eve an, und der sündige Adam braucht seine ganze Gerissenheit, um zu vernebeln, dass er selbst sich dieser Eva unzüchtig nähern wollte und gleichzeitig der Inspektorin vorzugaukeln, dass er eine korrekte Gerichtsverhandlung führen kann. Eve ist zwar durch eine perfide eingefädelte Erpressung zum Schweigen gezwungen, das zunehmend hektische Wechselspiel aus Anklage, Vertuschung und Verteidigung bringt aber immer mehr verräterische Indizien zum Vorschein, die auf Adam als den wahren Schuldigen weisen.

Gelangweilt, mürrisch, bananeessend und befremdet, dann auch scharfzüngig verfolgen Licht und Walter vom Bildschirm herab das Geschehen in der Gerichtsarena. Denkt der Zuschauer schon bei diesem absurden Paar an Waldorf und Statler auf ihrem Balkon, so findet die Inszenierung für die Einschränkung auf zwei Schauspieler noch eine weitere kluge Lösung. Schon beim Auftreten der Streitparteien tun sich in der Aktenwand Türen auf, durch die hindurch fahrbare Puppen aus Pappmaché auftreten und von hinten gespielt und gesprochen werden können. Jede von ihnen bekommt ihren eigenen Auftritt im Kreuzverhör mit Adam, der sie hinter seinem fahrbaren Weinkistenpodium über die Bühne scheucht. Als er sich in einer Verhandlungspause rülpsend und schlürfend, bei Wurst, Schnaps und griechischem Wein auch musikalisch mit der Gerichtsrätin zu verbrüdern versucht, stehen die Puppen sinnigerweise als bewegungs- und machtlose Kulisse hinter denjenigen, die in diesem Gerichtssaal eigentlich das Wort führen.

Adam verstrickt sich mehr und mehr in sein Lügengespinst, was durch einen roten Faden sinnfällig wird, den er kreuz und quer über die Bühne spannt und der den Bewegungsraum mehr und mehr einschränkt. Ebenso abgründig wie komisch tastet sich die Hauptbelastungszeugin Frau Brigitte im Friesennerz während ihrer Aussage spinnengleich am Faden entlang bis zur feurigen Schlinge um Adams Hals. Die zieht sich am Ende aber doch nicht mit voller Unerbittlichkeit zusammen, weil der Gerichtsrat seinem Amtskollegen fürs Erste die Flucht ermöglicht und für später schon goldene Brücken in Aussicht stellt. Um der Ehre des Gerichts willen hackt hier eine Richterkrähe der anderen kein Auge aus. Diesen Filz macht nur die Komödie erträglich, was den Skandal nicht mindert. Die ihres Krugs beraubte alte Dame gibt sich denn auch keineswegs zufrieden: „Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“ Der Applaus nach 75 Minuten ist trotzdem donnernd. –

„Wie ist es denn so schauzuspielen?“ „Wie lange hat es gedauert, das einzustudieren?“ „Was bedeutet das Auge da in der Mitte?“ – David Lison und Petra Ehrenberg sitzen auf der Bühne und stellen sich den munteren Fragen des Publikums. Man hat den Eindruck, dass sie es genießen, über diese nachgeholte Zuschauerperspektive selbst ein wenig Distanz zu der enormen Konzentrationsleistung von eben zu gewinnen. Die Jugendlichen fragen nicht unkritisch, sie würdigen und wundern sich. Dass etwa die gerade gespielte Textfassung nur ungefähr die Hälfte des im Unterricht behandelten Stückes umfasste, ist vielen gar nicht aufgefallen. Was aber niemanden im Raum überrascht, ist (noch ganz atemlos vom Spiel) die Antwort der Schauspieler auf die „Wie ist es denn so…“-Frage: „Toll! Ein großartiger Beruf!“ – Voilà: ein würdiges letztes Wort.