Auf der Projektionswand erscheinen vier rauchende Frauen. Sie sitzen auf Stühlen im Halbkreis, tragen lange Abendkleider, die Beine sind akkurat in dieselbe Richtung übereinandergeschlagen, jede hält anmutig ihre Zigarettenspitze. Das Foto ist schwarz-weiß, die Frisuren der Frauen lassen vermuten, dass es vor über hundert Jahren aufgenommen wurde.
Im Klassenzimmer, ebenfalls im Halbkreis, sitzen Schülerinnen und Schüler aus dem zweiten Jahr der Wirtschaftsschule und schauen auf das Foto. Sie nehmen heute an einem Politischen Tag der Landeszentrale für politische Bildung teil und beschäftigen sich in unterschiedlichen Gruppen- und Arbeitsformen mit Arten, Ursachen und der Bedeutung von Protest. Im aktuellen Weltgeschehen spielt er in den vielen Zusammenhängen eine Rolle, wobei Protestgründe und -aktionen häufig sehr verschieden sind. Ihnen allen gemeinsam ist aber, dass sie nicht staatlich organisiert‚ sondern gewissermaßen ‚Politik von unten‘ sind. Doch wie schauen wir eigentlich auf unterschiedliche Proteste? Wie weit darf Protest gehen, wann empfinden wir ihn als gerechtfertigt und wann nicht? Wie verhalten sich Protest und Demokratie zueinander? Wo findet jede und jeder Einzelne einen Platz im Spektrum möglicher Protestformen und -gründe und wann ist es Zeit für zivilen Ungehorsam?
Fragen wie diese haben die jungen Leute am Vormittag in kleinen Gruppen und im Plenum bearbeitet. Anhand konkreter thematischer Fallbeispiele, die abstrakte Bereiche wie Asylpolitik oder Klimaschutz greifbar machen, haben sie Collagen und Schaubilder erstellt und sich politisch positioniert. Jetzt, gegen Ende, führt Sophie Vollmer von der Landeszentrale im Gespräch die Ergebnisse zusammen. Es zeigt sich, dass effektiver Protest Gesetze und gesellschaftliche Moralvorstellungen verändern kann. Wie bei den rauchenden Frauen auf dem Foto: Es stammt von einem Wettbewerb für ästhetisches Rauchen, an dem eigentlich nur Männer teilnehmen durften. Die wütenden Frauen drängten sich einfach auf die Bühne und verursachten einen Skandal, den schon wenige Jahre später niemand mehr verstand, weil rauchende Frauen zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Auch dies übrigens ein Beispiel für die Wandlungsfähigkeit von Protestgründen: In unseren Tagen erregt eher das Rauchen selbst Anstoß, auf Geschlechterrollen achtet dabei niemand mehr.
Während im Obergeschoss der RFS über Protest nachgedacht wird, prallen eine Etage tiefer parteipolitische Positionen aufeinander. Auch hier ist die Landeszentrale für politische Bildung zu Gast und veranstaltet mit Schülerinnen und Schülern des Wirtschaftsgymnasiums ein Planspiel zu Parteiinteressen, Koalitionsverhandlungen und zur Regierungsbildung. Orientiert an der realen Bundestagswahl vom Februar 2025 werden die Teilnehmenden auf fiktive politische Parteien verteilt. Sie arbeiten sich in deren Forderungen und Positionen ein und veranstalten einen Wahlkampf. Es entstehen veritable Kampagnen mit Slogans und Wahlwerbespots, politische Mitbewerber werden angegriffen oder für Koalitionsverhandlungen umworben. Man schmiedet Kompromisse, feilt am Koalitionsvertrag, die Opposition kritisiert ihn, aber am Ende wählt das Parlament dennoch einen Kanzler. Der hat im Spiel zwar seinen Namen vergessen, die Gruppe lacht kurz, aber darauf kommt es nicht an. Viel wichtiger ist die praktische Einübung aktiver Demokratie an diesem Tag: sich zu verständigen, Konfliktlinien auszumachen und zu formulieren, um dann konstruktiv miteinander darüber zu reden.
„Wir haben es geschafft, eine demokratische Regierung zu bilden!“
„Unsere Positionen waren eigentlich nicht immer so cool, aber es hat Spaß gemacht.“
„Das Ergebnis ist sehr realistisch.“
„Ich find’s gut, dass meine Partei nicht gewählt wurde.“
„Das war viel besser als im Unterricht!“
Ein Dankeschön an die Landeszentrale für politische Bildung und an Aylin Tuzcu und Melanie Weigelt von der Robert-Franck-Schule für dieses demokratische Versuchslabor in der Schule!
„Die Sitzung ist geschlossen.“