Ist es nicht ein merkwürdiges Gefühl, etwas zu sehen, das fast genauso schon Julius Caesar vor über zweitausend Jahren gesehen hat? Die Weißen Klippen von Dover sind solch ein Anblick, bei dem einen das Gefühl einer gewissen Erhabenheit beschleicht. Wir als Reisegruppe der Robert-Franck-Schule fahren jetzt aber nicht mit der Absicht darauf zu, einen Großteil der britischen Insel einzunehmen und hunderte Jahre zu bleiben. Unser Ziel ist die Gegend von Medway im südöstlichsten Zipfel Englands, und wir werden bloß ein paar Tage dort verbringen, Menschen sehen, interessante Orte besuchen, etwas über Kultur und Geschichte des Landes erfahren und – last but not least – unser Englisch benutzen! Hinter uns im Dunkeln ist vorhin die französische Küste verschwunden, nun zeichnen sich im Morgengrauen immer klarer die grün-weiße Linie der berühmten Felsen und der Hafen von Dover ab.
Die Busfahrt von Ludwigsburg hatte schon am Abend vorher begonnen und wird langsam im Rücken spürbar. Als der Bus auf die linke Seite der Straße einschwenkt, gibt es ein paar Ahs und Ohs, und nun fehlen wirklich nur noch ein paar Meilen bis zum Drop-off-Punkt in Gillingham. Auf unseren Busfahrer wartet hier ein ruhiges Hotelzimmer und auf uns als Gruppe eine erste Erkundungstour durch die Bronx von Chatham und das malerische Rochester mit Castle und Kathedrale. Erstaunlich, wie nah beieinander die Gegensätze in diesem Land liegen können!
Das Kennenlernen der Gastfamilien steht am frühen Abend an. Dazu flutet ein regelrechter Autokorso auf den Busparkplatz, freundliche Menschen entsteigen ihren Fahrzeugen, stellen sich vor, Reisetaschen verschwinden in Kofferräumen und die Gruppe verstreut sich flugs in alle Richtungen.
Hinter Mauern und Zinnen
Der Morgen spült die Gruppe pünktlich wieder zurück an den Bus. Gasteltern winken und fahren weiter zur Arbeit, die Jugendlichen tuscheln und vergleichen Erlebnisse, und der Bus schiebt sich in den Vormittagsverkehr nach Osten, Richtung Canterbury. Bald erhebt sich weithin sichtbar die gewaltige Kathedrale, die dem Städtchen gnädig erlaubt hat, behutsam um sie herumzuwachsen. Wir haben hier eine Verabredung: Zwei Red Scarves, zertifizierte Fremdenführer mit roten Schärpen, werden uns durch die Straßen, Gassen und Jahrhunderte dieser uralten Stadt führen, in der schon die Römer ihre Spuren hinterlassen haben. Max, eine muntere alte Dame, zeigt uns, wo Mahatma Gandhi bei seinem Besuch in der Stadt meditierte und schildert die Bombardierung der Stadt durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, bei der mutige Feuerwehrleute Brandsätze vom Kirchendach fegten, um das Gebäude zu schützen. Wir gehen am schiefsten Haus Englands vorbei und bekommen erklärt, wie unermesslich reich das mittelalterliche Canterbury durch die Scharen von Pilgern wurde, die zum Schrein des ermordeten Heiligen Thomas Becket strömten.
Das Innere der Kathedrale mit dem typisch englischen Fächergewölbe und den bunten Glasfenstern übt eine ungeheure Wirkung aus. Über einem Seitenaltar hängt ein schartiges schwarzes Kreuz, nach unten spitz zulaufend und rot gefärbt. Hier wurde Bischof Thomas in seiner eigenen Kirche von Gefolgsleuten des englischen Königs erdolcht. Für seine spätere Heiligkeit erwies sich dies Schicksal als überaus zuträglich – und für die Stadt als ebenso einträglich. Alle Welt wollte diesen Ort sehen und die Geschichte hören: mittelalterlicher Katastrophentourismus gewissermaßen.
Zwischen Wellen und Hügeln
Es geht nach Brighton, in das ehrwürdige Seebad an der Südküste Englands. Die Stadt wirkt auf den ersten Blick etwas in die Jahre gekommen. Die trotzdem makellose Strandpromenade wird beherrscht von der quietschbunten Palace Pier, einem Vergnügungspark auf Stelzen, der sich hunderte Meter ins Meer hinausschiebt und mit unzähligen Eis-, Fish and chips- und Waffelständen, Spielautomaten und verschiedensten Fahrgeschäften lockt.
Als Trendsetter all dessen erweist sich König George IV., ein royaler Partylöwe vor dreihundert Jahren, der als Kronprinz auf der Suche nach Spaß und Vergnügen entscheidend dazu beitrug, dass Brighton eine entsprechende Infrastruktur ausbildete. Sie gibt es bis heute. Britain’s hippest city ist studentisch, bunt, zieht mit ihrer Party- und Veranstaltungskultur Unmengen von Besuchern an und beherbergt eine ansehnliche Künstlerkolonie, die zahllose Wandmalereien und Skulpturen im Gassengewirr hinterlassen hat.
Vor uns erhebt sich jetzt der Royal Pavilion, eine für das kühle England abenteuerliche Ansammlung von Kuppeln, Türmchen und Zinnen im Stil eines indischen Tempels. Vor scharfen Gegensätzen hat man sich in diesem Land nie gescheut: Die üppige Pracht im Inneren des Palastes folgt ganz chinesischem Stil. Von den Decken hängen Lampen in Lotosform, über und über bemalt. Unsere Gruppe wandelt auf roten Plüschteppichen mit goldenen Ornamenten und von Beistelltischchen und Vasen herab fletschen schuppige Drachen die Zähne.
Danach erkunden die jungen Leute gern noch ein wenig die Stadt. Man sieht sie zu zweit oder in kleinen Gruppen in Cafés oder vor den Souvenirshops der Fußgängerzone, bevor uns der Bus an der Strandpromenade wieder aufnimmt.
„London Calling“
Wir werden in North Greenwich abgesetzt. Von hier sind es nur wenige Schritte zum Millenium Dome, auf der gegenüberliegenden Flussseite in Richtung Osten erheben sich die Wolkenkratzer von Canary Wharf und dahinter liegen Tower Bridge und die alte City of London. Weiter flussaufwärts macht die Themse eine weite Kurve nach Süden, linker Hand liegt das ehemals verrufene Southwark und rechts die vornehme City of Westminster: Eine Welt von Möglichkeiten! Alle haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wohin sie nun ausschwärmen wollen und sind im Handumdrehen verschwunden.
Gemeinsam geht es dann ins London Dungeon, ein Gruselkabinett englischer Geschichte, gleich gegenüber dem Parlament. Ein großer lichtloser Zeitfahrstuhl ruckelt uns nach unten, wo wir im Jahr 1605 von einem lauten Soldaten empfangen werden, der Guy Fawkes, den glücklosen Verschwörer des Gunpowder Plots, höchstselbst auf frischer Tat ertappt haben will. Guys Kopf steckt hinter ihm auf einem Spieß, erweist sich mit der Zeit aber doch als noch überaus lebendig... Die Szene endet mit einem Knall, bei dem Wände und Boden wackeln, aber wir können flüchten.
Zweihundert Jahre später stehen wir in Lady Lovett’s Pastetenladen in der Fleet Street. Während sie selbst in Haube und Perücke hinter der Theke charmant über ihre Rezepte plaudert, wächst im Kopf des Passanten die bohrende Frage heran, woher denn all das leckere, frisch geschlachtete Fleisch kommt, das sie hier mit so großer Begeisterung verarbeitet…
Mittlerweile ist es 1889, und wir kehren in den Ten Bells Pub im finstersten White Chapel ein. Der Wirt erzählt von ungeklärten Prostituiertenmorden in der Gegend; der Name Jack the Ripper fällt, und die Stimmung wird immer unheimlicher. Draußen blitzt und donnert es. Im Hintergrund bewegen sich von selbst Gegenstände, das schummrige Licht flackert, und wieder gibt es eine Überraschung, dass der ganze Saal kreischt.
Britannien entlässt uns nun. Bereits am Morgen hatten wir uns herzlich von unseren Gastfamilien verabschiedet. Jetzt bleiben noch ein paar Stunden in London, bevor der Bus am Abend wieder Dover ansteuert. In pechschwarzer Regennacht warten wir auf die Fähre. Irgendwann entfernt sich die Küste, nur ein paar bunte Hafenlichter erleuchten Caesars weiße Kreidefelsen.
Wir kamen, sahen – und waren begeistert. Diesen Anblick sollte man sich öfter gönnen.